Nach einer langen Zeit im Zeichen von Social Distancing ist das Bedürfnis nach physischer Nähe wohl so ausgeprägt wie nie zuvor. Warum dieses Haut-Hungergefühl untrennbar mit Einsamkeit verbunden ist und was Berührungen mit Glück zu tun haben.
Dürftest du jetzt jemandem deine Hand reichen, wessen wäre das? Vielleicht die kleine klebrige Hand deiner Nichte, die gerade erst laufen gelernt. hat? Die eng umschlungenen Finger deines vielversprechenden Tinder Matches, die weiche Haut deiner Oma oder doch lieber der kräftige Händedruck einer Personalerin, die dir zu deinem neuen Traumjob gratuliert? Für welche Hand du dich auch entscheidest, es liegt nahe, dass dich diese Frage beschäftigt und zum Grübeln bringt. Anders als vor Corona, als dein größtes Kontakt-Dilemma lediglich darin bestand, zu überlegen, ob du dein Gegenüber lieber mit 2 oder 3 Wangen küssen begrüßt. Als im letzten März weltweit die Kontaktbeschränkungen eingeführt wurden, haben wir begrif fen, welche Kraft doch alle fühlbaren Dinge in sich tragen. Auf der einen Seite schenken sie uns Trost und auf der anderen bringen sie uns auch sehr viel Freude. Es ist nun also über ein Jahr ohne viele Kontakte vergangen und Social Distancing ist zu einem der größten Experimente der Geschichte geworden. Zeit, zu beleuchten, was uns der Verlust von Berührungen gelehrt hat- und wie wichtig jetzt eine Rückkehr zum Normalzustand für die Gesundheit ist.
Berührungen sind überlebenswichtig
Anfang 2020, kurz vor dem ersten Lockdown, ging eine große Forschungsreihe namens „The Touch Test“ an den Start. Es handelt sich dabei um eine globale Studie über die soziale Rolle von Berührungen. Mitarbeiter der Goldsmiths, University of London haben dafür Daten von 40000 Menschen aus 112 Ländern gesammelt und sie gefragt, ob sie gerne Dinge anfas sen, wie oft sie andere berühren und welche Auswirkung körperliche Zuneigung auf ihre mentale Gesundheit hat. Die Forscher haben einen bemerkenswerten Zusammenhang zwischen Berührungen und Glück gefunden: Diejenigen, die Berührungen als etwas Positives werteten, verzeichneten die höchsten Wohlfühlwerte, und diejenigen, die in jüngster Zeit selbst viel angefasst hatten, waren am seltensten einsam.
Bereits vor der Pandemie und oftmals begründet durch den vermehrten Kontakt zu anderen via Social Media empfanden 54 Prozent der Befragten, dass sie nicht genügend berührt wurden. ,,Lange vor den Lockdowns waren wir bereits auf dem Weg, eigenständiger zu arbeiten, uns eher virtuell zu verbinden, als uns persönlich zu tref fen. Und immer noch halten wir öfter ein Smartphone statt einer menschlichen Hand“, sagt die Psychologin Suzy Instituts für deutsche Wirtschaft fühlt sich jeder zehnte Deutsche oft oder immer einsam. Auffällig ist, dass es zwischen den untersuchten Altersgruppen kaum einen Unterschied gibt. Demnach ist die sogenannte Einsam keitsquote bei den 45- bis 84-Jährigen von 2011 bis 2017 um rund 15 Prozent gestiegen. Für die Corona-Krisenjahre 2020 und 2021 liegen noch keine Ergebnisse vor, sie dürften jedoch erschreckend ausfallen. Das ist alarmierend, da sich Wissenschaftler auf der ganzen Welt einig sind, dass Einsamkeit nicht nur ein Unwohlsein hervorruft, sondern auch zu ernsthaften Erkrankungen wie Depressionen und Herz-Rhythmus-Störungen führen kann. Zudem neigen einsame Menschen erwiesenermaßen eher zur Drogen- und Alkoholsucht.
Und genau deshalb sind Berührungen so essenziell. Sie sind die signifikanteste Art, aus der wir Sicherheit und Wohlempfinden schöpfen. Natürlich war immer schon anerkannt, dass virtuelle Likes echte Umarmungen nicht ersetzen können. Aber erst als die Bildschirmzeit gezwungenermaßen von einem Freizeitvergnügen zur einzigen Form von menschlicher Interaktion wurde, intensivierte sich auch das Problembewusstsein dafür. Denn schon lange ist Einsamkeit ausgelöst durch digitale Kommunikation ein anerkanntes Problem. In England wurde sogar vor wenigen Jahren eine Staatssekretärin zur Einsamkeitsministerin berufen. Und auch hierzulande ist Einsamkeit ein akutes Thema. Laut einer aktuellen Studie des Psychologin Reading. Ohne sie schaltet das Gehirn nämlich in den Verteidigungsmodus. Der daraus resultierende Stress kann die Herzfrequenz erhöhen, Muskelspannungen hervorrufen und führt zu Schlafschwierigkeiten und Konzentrationsschwäche.
Natürlich sind Berührungen nicht immer und überall etwas durchaus Positives: Die ungewollten Berührungen, zum Beispiel in der überfüllten U-Bahn, wenn man dicht an dicht sitzt und dabei den Duft von fremden Achselhöhlen inhaliert, sind nichts Wunderbares. Doch überwiegen im Alltag ja eigentlich die positiven Berührungen. Bereits vor der Geburt haftet Berührungen übrigens etwas Positives an. Ein Fötus fühlt Berührungen schon in der Gebärmutter – und der Tastsinn ist tatsächlich auch der einzige Sinn, der einen verlässlich bis zum Tod begleitet. Sehsinn und Hörsinn werden mit dem Alter immer schlechter und auch Geschmacks- und Geruchssinn können schwinden. Die Haut allerdings lässt uns bis zum Lebensende alles spüren.
Die Chemie des Glücks
Die innerliche Sehnsucht nach Kontakt, bekannt als „Skin Hunger“, ist ein Verlangen, das tatsächlich in der Haut existiert. Bei Umarmungen oder Berührungen setzt das Gehirn Oxytocin (auch Kuschelhormon genannt) frei- ein Botenstoff der Nervenzellen, der Vertrauen schafft und jegliche Art von Ängsten runterschraubt. Es gibt 2 Typen von Berührungsnerven. Die schnellen Nerven geben zu verstehen, tet oder seinen Partner zärtlich berührt. Augenscheinlich existiert dieses System evolutionär in uns drin, damit wir uns stetig danach sehnen, uns gegenseitig zu berühren und Beziehungen zueinander aufzubauen. Was Umarmungen angeht: Schon 20 Sekunden reichen, um Oxytocin freizusetzen.
Worauf es wirklich ankommt
Während wir uns langsam einer Post Corona-Zukunft nähern, sind sich Experten darüber einig, dass diese Berührungspause zumindest eine gute Sache hervorgebracht hat: Sie läutete einen dringend benötigten Weckruf über die essenzielle Bedeutung von physischem Kontakt ein. Wir scheinen den Wert eines Gefühls erst schätzen zu lernen, wenn wir es verloren dass etwas auf der Haut passiert ist, sie lenken die Aufmerksamkeit auf den Körper, während die langsamen Nerven – die so genannten C-Fasern – Emotionen in Bereiche des Gehirns leiten, wo sie verarbeitet werden. Er glaubt, dass diese langsamen C-Fasern bei Berührungen nur existieren, um die soziale Bindung zu erleichtern. Bei der Beobachtung, wie sich die Nerven verhalten, während die Haut berührt wird, hat sein Team herausgefunden, dass sie auf sanfte Berührungen, so nah wie möglich an der Hauttemperatur, bei einer optimalen Liebkosungsgeschwindigkeit von 3 bis 5 cm auf der Haut pro Sekunde am besten reagieren. Bevor jetzt alle nach einer Stoppuhr greifen: Das ist ungefähr die Geschwindigkeit, die angewendet wird, wenn man zum Beispiel ein Baby trös haben. Denn was ist die Sache, die einsame Menschen am wenigsten bekommen? Richtig, es sind Berührungen. Aber bisher haben viele sie nicht genügend gewürdigt und nicht verstanden, wie wichtig sie für die mentale und physische Gesundheit sind. Dabei ist es ganz einfach: Das Gehirn unterliegt einem Belohnungssystem, das positiv auf Berührungen reagiert. Entzieht man ihm diese, wird es nach einer anderen Art von Belohnung suchen. Alkohol zum Beispiel wäre ein einfacher Ersatz. Es bleibt die Hoffnung, dass wir schon bald wieder zum selbstverständlichen Händeschütteln und Umarmen zurückkehren kön nen. Denn zusammenfassend steht fest: Nähe gibt Halt, reduziert Stress und vermittelt auch das Gefühl, dazuzugehören. Es lohnt sich also über alle Maßen, selbst den kleinsten Berührungen zukünftig noch viel, viel mehr Aufmerksamkeit zu schenken.